Ess-Kastanie Aachen (Kreisfreie Stadt, Nordrhein-Westfalen)

Ess-Kastanie Aachen: mit ihrem mächtigem Stamm von über 8 m Umfang
BaumartEss-Kastanie (Castanea sativa)
Standort:Kreisfreie Großstadt Aachen, Stadtteil Vaalserquartier; südlich der B1 am westlichen Stadtrand, 900 m vor der Grenze zu den Niederlanden: auf einer Wiese an der Abzweigung Schmiedgasse von der Alten Vaalser Straße (Bushaltestelle Linie 25+35 „Vaalserquartier Schmiedgasse“, von dort ausgeschildert); Bundesland: Nordrhein-Westfalen
Alter:ca. 450 Jahre (aus Dimension, Standort und Lebensgeschichte hergeleitet, Schätzungen gibt es von 300-800 Jahren)
Stammumfang:8,04 m in 1,3 m Stammhöhe (gemessen im Mai 2024)
Höhe:ca. 18 m
GPS-Daten: N 50.768166, O 6.034851
NEB seit:24. Oktober 2024 (Bericht & Fotos)

Bekannt war mir dieser besondere Maronenbaum aus dem wunderschönen Buch „Starke Bäume in Nordrhein-Westfalen“ von Christoph Michels (2021, Verlag Dr. Kessel, Remagen), worin er eindrucksvoll beschrieben wird. Daraufhin habe ich ihn mir bei meiner Aachener Stadt- und Umland-Baumsuchtour angesehen und es war sofort klar: der wird es. Aber dann hatte ich dabei zunächst noch einige Hürden zu nehmen…

Denn als ich an der Location „Bushaltestelle Schmiedgasse“ im Aachener Stadtteil Vaalserquartier ankam und die mondäne Ess-Kastanie suchte, bin ich zunächst etwas „herumgeirrt“. Aber dann fand sich jemand auf dem nahen Hofgut, zeigte mir die Richtung und ließ mich über den Zaun klettern. Angekommen durch tiefes Gras bot sich mir ein überwältigender Anblick (Fotos unten) und packte mich eine ganz große Freude: das ist ein Maronenbaum, wie ich ihn als nächsten in Deutschland gesucht hatte! Dann war es nur noch etwas kompliziert, spontan die Eigentümer herauszufinden, und so bin ich zunächst beim Pächter der Fläche gelandet: ein Ökolandwirt einer solidarischen Lebensgemeinschaft. Ich schilderte ihm kurz zunächst am Telefon mein Anliegen, und mit seiner spontan überwältigt positiven Reaktion haben wir uns dann sogleich verabredet und 3 Minuten später am Trecker auf seinem Feld getroffen.

So wünsch ich mir das und war wohl ein Glückstreffer: der Pächter sehr begeistert von unserem Anliegen, den Baum als Nationalerbe auszuwählen. Aber, sagte er: er wäre ja nicht der Eigentümer, denn das sei die Stadt Aachen. Da es aber bereits abends vor einem Feiertag war, brauchte ich dorthin nicht mehr zu fahren oder telefonieren, sondern habe mich erstmal zufrieden über den „Findungserfolg“ wieder zurück auf den Heimweg gemacht.

Bereits 2 Tage später war klar, wer für mich Ansprechpartner in der Aachener Stadtverwaltung ist (Untere Naturschutzbehörde UNB: Baumschutz und Naturdenkmale) und dass die Stadt sehr großes Interesse an der Ehrung dieses Baumes hat. Er ist bereits Naturdenkmal. Also bin ich bald danach nochmals nach Aachen gefahren, um alles in einer gemeinsamen Beratung am Baum mit den Stadtvertretern und Pächtern durchzusprechen und es wurde beschlossen: das geht klar!

Es waren noch einige Details zu klären (z.B. der Zutritt zum Baum auf der eingezäunten Weidewiese), aber darüber gab es schnell Einvernehmen für eine Regelung, die nun bereits in Angriff genommen wurde: es wird ein neuer Fußweg zum Baum von der Bushaltestelle aus angelegt, mit Wegweiser/Hinweis-tafel und Abgrenzung zur Weide. Große Freude: überall so enthusiastische Ansprechpartner, so liebe ich das – vor allem wenn es dann zur Besprechung am Baum auch noch Bewirtung mit Bio-Torte und Kaffee/Tee gibt, ich fasse es nicht!

Der Baumveteran ist schwer gezeichnet durch Blitzeinschläge, Sturmereignisse und Astabbrüche, aber strotzt mit allen seinen Rissen, Beulen und Höhlungen vor Lebensfreude, das ist ein Hochgenuss. Halt ein „Senior mit Macken“, wie wir ja nun schon einige kennengelernt und „aufgenommen“ haben…

Eine große Freude ist auch das optimale und geschützte Umfeld der Riesenkastanie: ein Landschaftsschutzgebiet mit Schafbeweidung (die Schafe schlafen auch gelegentlich im Hohlraum des Stammfußes). Der Baum ist weitgehend hohl und hat überall Öffnungen – darin muss sich eine enorm kostbare, interessante und vielfältige Mehrgenerationen-WG aus Fledermäusen, Käfern, Vögeln, Kleinsäugern, Moosen, Flechten etc. entwickelt und eingerichtet haben. Denn in und an einer (nur halb so dicken) Ess-Kastanie bei uns im Forstbotanischen Garten Tharandt der TU Dresden wurden bei einer Intensiv-Untersuchung eines Zoologie-Spezialisten 105 Käferarten gefunden, darunter auch einige ausgestorbene und vom Aussterben bedrohte!

Zusammen mit einem großen, etwa halb so alten Esskastanien-Baumkreis gleich nebenan muss es sich hier wohl um einen mystischen Ort handeln, der früher strategische Bedeutung gehabt haben soll. Schon Karl der Große hat womöglich vom Aussichtspunkt auf dem Kastanienhügel weit bis nach Holland geschaut und wichtige Entscheidungen getroffen…

Bei der Nutzung sind als bedeutsam aber vor allem die Früchte zu nennen – es gibt ganze Bücher darüber, was man mit und aus ihnen alles machen kann. Sie waren bis ins 17. Jahrhundert in wärmebegünstigten Regionen ein Volksnahrungsmittel: „ein Baum pro Kopf“ war angesagt! In Notzeiten mit Missernten in der Landwirtschaft halfen Maronen beim Durchhalten. Das Sammeln der Früchte im Herbst ist zudem auch heute eine attraktive Familienbeschäftigung. Der Spruch „Für jemanden die Kastanien aus dem Feuer holen“ bezieht sich auf die Marone.

Aufgrund ihrer Robustheit, ihrer Früchte und des besonderen Aussehens sind Ess-Kastanien auch beliebte Stadtbäume, vor allem in Parkanlagen, großen Gärten und an Gutshäusern. Dabei ist zu beachten, dass die Bäume sehr groß werden. Der wohl größte Baum Europas ist bzw. war eine weit über 1000-jährige Ess-Kastanie am Ätna auf Sizilien, die einen Stammumfang von über 55 m hat! Das kann man heute noch aus ihren verbliebenen 3 Teilbäumen rekonstruieren. Sie wurde und wird auch „Kastanie der 100 Pferde“ genannt, da so viele Pferde unter ihrer Krone Platz hatten, wovon es eindrucksvolle Bilder gibt (auch die beiden letzten unten).

Das natürliche Areal der Ess-Kastanie lässt sich schwer rekonstruieren aufgrund ihrer mehr als 2.000-jährigen menschlichen Verbreitung und Pflanzung in Europa. Schon zur Römerzeit wurde sie für Rebstöcke und wegen ihrer Früchte außerhalb des Ursprungsareals angebaut. Die Ess-Kastanie wird aufgrund ihrer langen Einbürgerungsgeschichte als heimische Baumart eingestuft. Mit ihrer Herkunft aus dem Mittelmeerraum ist erklärbar, dass sie mit heißen trockenen Sommerperioden gut klarkommt und vom Klimawandel profitieren wird. Die größten Ess-Kastanienbestände in unserem Land gibt es westlich vom und im Rheintal.

Offen bleibt die Frage, wie es im Westen von NRW zu einer solchen Kastanienansammlung gekommen ist, wie es sie heute dort gibt: in Aachen und im Umland so viele auch ältere Maronen, dafür muss es ja Gründe geben. Ist dort evtl. vor längerer Zeit jemand aus Frankreich eingewandert und hat die Tradition mitgebracht, oder macht die Nähe zu Rheinland-Pfalz mit seinem Weinbau dafür etwas aus? Denn Maronenholz wurden ja gerne für die Rebpfähle verwendet.

Die Ess-Kastanie ist also eine besonders geschätzte Baumart mit vielen attraktiven Eigenschaften und Nutzungsmöglichkeiten. Wer sie pflanzt, kann sich auf 500-1.000 Jahre Lebenserwartung freuen und vielen Nachfahren damit eine Freude machen – so ist es wohl auch hier bei dieser Ess-Kastanie in Aachen, und nun erhält dieser kostbare Baum unsere höchstrangige Auszeichnung: wir wünschen ihm damit noch eine lange und gesunde Zukunft!

Als Monat für die Ausrufungszeremonie haben wir Oktober festgelegt, damit dann die Maronen reif sind und ordentlich für Stimmung sorgen, vielleicht auch schon zusammen mit herbstlicher Blattfärbung. Allerdings ist bei der Ausrufungsfeier nur eine sehr begrenzte Teilnehmerzahl zulässig wegen des sensiblen Baumumfeldes.

Damit sind nun alle geplanten 12 neuen Nationalerbe-Bäume für 2024 „in der Kiste“ – und es steht zusätzlich eine Überraschung an, die aber noch etwas Zeit braucht und daher noch nicht verraten wird…

Text und Bilder: Andreas Roloff, TU Dresden