Tassilolinde Wessobrunn (nahe Ammersee, Oberbayern)

Tassilolinde Wessobrunn: monumentale Baumgestalt (von unterhalb)
BaumartSommer-Linde (Tilia platyphyllos)
Standort:Gemeinde Wessobrunn (etwa 15 km südwestlich vom Ammersee; Landkreis Weilheim-Schongau, Oberbayern); im Ort nicht zu verfehlen, da von überall ausgeschildert: in unmittelbarer Nachbarschaft zum Klostergelände; östlich vom Rathaus und Kloster, von wo ein ausgeschildeter Fußweg hinführt (5 min); oder über die Straße Tassiloweg zu erreichen
Alter:ca. 800 Jahre (700-900 Jahre, hergeleitet aus Stammdimension und -strukturen)
Stammumfang:14,15 m in 0,9 m Stammhöhe (Taille, gemessen Feb. 2023)
Höhe:ca. 17 m
GPS-Daten: N 47.875806, O 11.029992
NEB seit:14. Oktober 2023  (Bericht & Fotos)

Die überall geschilderte schöne Legende über die angebliche Entstehung der Tassilolinde vor 1270 Jahren mit dem Traum von Herzog Tassilo III. (sog. „Klostergründungslegende“) erspare ich mir hier, da sie frei erfunden ist, wenn auch eine interessante Geschichte. Umso weitreichender wird die Diskussion über das „legendäre“ Alter dieser Linde geführt – die seriösen Angaben schwanken von 400 bis 900 Jahren. Eine längere intensive Analyse der Stammstrukturen hat mich zu dem Ergebnis gebracht: ihr Alter kann maximal 700-900 Jahre sein, ich wähle davon den Mittelwert 800 Jahre als wahrscheinlichste Angabe. Denn es gibt einen Teil des heutigen Stammes (auf seiner hangabwärts orientierten Seite), der noch urtümlichste Strukturen aufweist: Knollen, Verwirbelungen, Vermischung von jungen bis sehr alten Innenwurzeln, sowie noch einen Teil des ursprünglichen äußeren Stammmantels. Da dieser deutlich aus dem Boden herausragt und also nicht zur Wurzel gehört, schätze ich ihn als Überbleibsel des Original-Stammes und auf die genannte Altersspanne ein. Alle weiteren heutigen Stämmlinge des „Stammringes“ sind viel spätere Wiederaustriebe aus der Wurzel seit etwa 300 Jahren bis heute. So spannend war eine Stammanalyse selten, und ich bin mit dem Ergebnis sehr zufrieden. Denn dieses Alter passt auch zum Umfang des heutigen Baumes von über 14 m.

Hinzu kommt nun, dass es nicht eine Winter-Linde ist (wie fast überall beschrieben), sondern in allen 7 Merkmalen eindeutig eine Sommer-Linde:

  • Früchte mit 5 Rippen, weshalb sie sich nicht zerdrücken lassen;
  • 3-4 Früchte im Blüten-/Fruchtstand (nie über 5);
  • behaarte diesjährige Jahrestriebe;
  • behaarte Blattstiele;
  • unterseits in den Hauptseitennerven-Winkeln zahlreiche helle Achselbärte;
  • Blätter unterseits deutlich behaart und rein grün (nicht blaugrün);
  • Blattgröße meist über 10 cm, bis 15 cm.

Für eine Sommer-Linde ist ein Alter von über 800 Jahren und der aktuelle Stammumfang von über 14 m ohne Probleme erreichbar. Dies wäre bei Winter-Linden schwierig(er), da sie deutlich langsamer wachsen und kleiner bleiben als „ihre große Schwester“.

In der Historie des Klosters Wessobrunn wären zu dieser Alterseinschätzung folgende Ereignisse passend (aus www.klosterwessobrunn.de): „Mit dem Ende des Nonnenklosters und durch eine gewaltige Brandkatastrophe um 1220, die Kloster und Kirche bis auf die Grundmauern vernichtete, setzte eine neue und lang anhaltende Bauperiode ein. Das neue Münster konnte jedoch erst 1285 vollendet werden.“ Somit könnte die Linde im Zuge der Baufortschritte im 13. Jahrhundert gepflanzt worden sein, z.B. zur Vollendung des Münsters 1285. Dann wäre sie 740 Jahre alt, was auch sehr gut zu o.g. Ausführungen zur Alterseinschätzung passen würde. Erklärungsbedürftig bleibt allerdings der Pflanzort: warum wurde sie dann nicht direkt im Klostergelände gepflanzt?

Die Tassilolinde ist seit 1980 Naturdenkmal. Landkreis und Freistaat Bayern (Untere Naturschutzbehörde am Landratsamt) kommen in vorbildlicher Weise ihrer Verantwortung fur den Erhalt dieses Baumveteranen nach. Sie übernehmen gemeinsam mit der Gemeinde diese Aufgabe einschließlich der Finanzierung der Erhaltungsmaßnahmen. Für den Erhalt und Schutz der Tassilolinde Wessobrunn ist ihre geschützte Lage am Steilhang und die Weitsicht aller bisherigen Eigentümer bzw. Bürgermeister von Bedeutung.

Allerdings haben zu viele Baumfreunde in den letzten Jahren die Tassilolinde aufgesucht, daher musste ihr Umfeld in diesem Jahr umfassend neu gestaltet werden: Der Weg zum Baum wurde verlegt, und der Zutritt unter die Krone ist nun nicht mehr gestattet, um Wurzel- und Stammschäden zu vermeiden. Dies wird auch von den allermeisten Besuchern akzeptiert und hat schon positive Auswirkungen. Auch die Ausrufungsfeier wird natürlich danach ausgerichtet, denn alle wollen, dass dieser Baum ein Alter von 1000 Jahren erreicht. Gemeinde, Untere Naturschutzbehörde beim Landratsamt und der Landkreis sind mächtig stolz auf diesen Veteran, der nun also geadelt wird.

Damit ist auch dieser 30. Baum mit unterschriebener Vereinbarung in der Ehrengarde angekommen, und daher geht gerade ein neues Buch zu den ersten 30 Nationalerbe-Bäumen in Druck und wird im Oktober erscheinen, worin auch die Tassilolinde schon mit enthalten ist. Das Buch ist dann wieder kostenlos als pdf von unserer Website herunterzuladen.

Und noch ein Baum-Highlight ganz in der Nähe sollten Sie mit ansehen, falls Sie die Tassilolinde besuchen: den Paterzeller Eibenwald. Er ist ebenfalls deutschlandweit unter vielen Bauminteressierten bekannt aufgrund seiner besonderen Bestandesstruktur mit über 1000 alten und mittelalten Eiben. Diese wachsen sehenswert in einem von Wasserläufen durchzogenen Waldstück bei Paterzell und machen mit ihrer rötlichen Rinde und den dunkelgrünen Kronen mächtig Eindruck. Der Eibenwald ist etwa 5 km von der Tassilolinde entfernt, sehr gut ausgeschildert und nicht zu verfehlen.

Text und Bilder: Andreas Roloff, TU Dresden