Weiß-Tanne bei Bayerisch Eisenstein im Nationalpark Bayerischer Wald (Landkreis Regen im Regierungsbezirk Niederbayern)
Baumart | Weiß-Tanne (Abies alba) |
Standort: | beim Zwieslerwaldhaus, auf der Waldhaustraße von Ludwigsthal kommend, am Straßenende links abbiegen zum Parkplatz Brechhäuslau, dann noch etwa 500 m Fußweg auf dem Forstweg Richtung Schwellhäusl, dort links die Tanne 50 m vom Weg entfernt – nicht zu übersehen, da durch Bohlenweg in Szene gesetzt |
Alter: | ca. 605 Jahre (durch Jahrringzählung einer ebenfalls sehr starken Nachbartanne hergeleitet) |
Stammumfang: | 6,93 m in 1,3 m Stammhöhe (gemessen Jan. 2023) |
Höhe: | ca. 53 m |
GPS-Daten: | N 49.098683, O 13.230611 |
NEB seit: | 23. Juni 2023 |
Als erstes folgt hier die spannende und schöne Story zur Geschichte der Altersermittlung dieser Tanne: denn gleich in der Nähe stand eine ebenfalls sehr dicke Tanne und wurde vor fast 60 Jahren (1965) vom Sturm geworfen, und ihr Stammquerschnitt (eine intakte Baumscheibe, sie hatte noch alle(!) Jahrringe, war also nicht hohl im Inneren) steht im sehenswerten Waldmuseum Zwiesel. Die Jahrringzählung an dieser Nachbartanne ergab 450 Jahre, sie war 1,65 m dick. Die nun von uns auserkorene Tanne hat einen Stammdurchmesser von 2,20 m (Umfang 6,93 m), d.h. bei gleicher Jahrringentwicklung (die man berechtigt annehmen darf) wäre unser Nationalerbe-Baum damit 602 Jahre alt! Auf diese Weise erhält man eine sensationell abgesicherte Altersangabe. Und da es noch mehr dicke Tannen im Bayerischen Wald und im Schwarzwald in ähnlicher Höhenlage gibt, ist sie also auch nicht die einzige mit einem Alter von über 400 Jahren, womit die Baumart Weiß-Tanne ebenfalls zu den von uns gesuchten langlebigen Baumarten gehört – was mir gar nicht bewusst war. Somit wird diese Tanne auch stellvertretend für viele weitere Alttannen in den Bergwäldern als Nationalerbe ausgerufen und zeigt das enorme Potenzial der Weiß-Tannen.
Dieser Baum steht in einer alten Tannengruppe und ist die höchste, dickste und älteste dokumentierte Tanne Deutschlands! Alte Weiß-Tannen entwickeln in der Oberkrone oft ein sog. „Storchennest“, wenn der Wipfeltrieb schließlich im Höhenwachstum stockt, während die Seitenzweige noch unvermindert zur Seite wachsen – das zeigt dieser Baum allerdings trotz seiner großen Höhe derzeit nicht.
Weiß-Tannen gehören heute in Deutschland zu den seltensten heimischen Baumarten. Sie blühen erst spät in ihrem Leben, nämlich mit etwa 50 Jahren, und eine stärkere Blüte tritt nur alle 3-5 Jahre auf. Dabei reifen die aufrecht stehenden weiblichen Blütenstände dann im Herbst zu Tannenzapfen heran. Bei den bis zu 16 cm groß werdenden Zapfen am Baum ist zunächst bemerkenswert, dass sie nicht wie bei fast allen anderen Nadelbäumen hängen, sondern wie Kerzen auf den Zweigen stehen. Das kann richtig chic aussehen und können Sie auch bei diesem Baum erkennen (ein Fernglas hilft dabei). Und bei der Reife fallen die Samen im Herbst und Winter dann nach und nach von der Zapfenspitze beginnend aus der Krone herunter – oder richtiger beschrieben: sie segeln, denn sie haben einen Flügel, der sie zu „Schraubdrehfliegern“ macht. Schließlich stehen nur noch die Spindeln der Zapfen auf den Ästen und mancher Naturfreund hat sich schon gefragt, was das denn für Spieße auf den Tannenzweigen sind. Darauf auch mal achten, wenn Sie vor dieser oder einer anderen Tanne mit Zapfen stehen.
Auf den Weihnachtstellern oder auf dem Waldboden können daher gar keine Tannenzapfen liegen, denn sonst hätte jemand in die Spitze der Tannenkronen klettern und die Zapfen herunterwerfen müssen – weil Tannenzapfen nie als Ganzes vom Baum fallen, im Gegensatz zu Fichten- und Kiefernzapfen, die man daher auch als Weihnachtsdeko verwenden kann.
Die Weiß-Tanne gehört zu den immergrünen Nadelbaumarten, das wussten Sie natürlich schon. Weniger vielleicht, dass ihre Nadeln ca. 10 Jahre alt werden, im Hochgebirge auch bis 14 Jahre. Das ist unter den heimischen Nadelbaumarten Rekord. Immergrüne Nadelbäume können in warmen Perioden auch im zeitigen Frühjahr und im Herbst Zucker produzieren, wenn Laubbäume keine Blätter tragen. Das ist ihr Konkurrenzvorteil in kühleren Regionen und Höhenlagen.
In der Jugend ist die Weiß-Tanne eine der schattentolerantesten Baumarten. Sie wächst dann sehr langsam, der Wipfeltrieb nur minimal. So kann sie ähnlich der Buche „in Wartestellung“ (in Hoffnung auf mehr Licht) verharren und einen bis zu 150-jährigen „Schattenschlaf“ halten! Wenn schließlich einer der alten Nachbarbäume fällt (oder gefällt wird), erwacht der Nachwuchs aus diesem „Schlaf“ und wird vom Licht „wachgeküsst“. Allerdings verträgt die Tanne keine plötzliche Freistellung, denn es müssen erst neue Lichtnadeln gebildet werden – die Schattennadeln „verbrennen“ sonst regelrecht in der plötzlichen prallen Sonne, an die sie nicht angepasst sind.
Zu schaffen macht der Tanne immer wieder der Verbiss durch Rot- und Rehwild bei hohen Wilddichten. Dann wird sie immer seltener. Zudem ist sie sehr immissionsempfindlich und war daher im Erzgebirge in den 1990er Jahren fast ausgestorben. Aber es ist Hoffnung angebracht: aufgrund der verbesserten Luftqualität wächst die Tanne inzwischen sogar auch dort wieder, wenn es auch noch ein langer Weg zu Altbeständen von Bergmischwäldern mit dem Trio Buchen, Tannen und Fichten sein wird.
Die Wurzeln der Weiß-Tanne dringen tiefer in den Boden ein als die vieler anderer Baumarten: sie entwickelt anfangs eine kräftige Pfahlwurzel, die schließlich zu einem herzförmigen Wurzelsystem führt. Wurzeln benachbarter Tannen verwachsen zudem miteinander und sorgen so für noch bessere Standsicherheit und einen Stoff- und Informationsaustausch zwischen Nachbarbäumen.
Das Holz der Weiß-Tanne ähnelt dem der Fichte und wird meist ähnlich genutzt. Es ist aber heller, ohne auffällige Farbunterschiede und vor allem harzfrei, was die Verwendbarkeit und Imprägnierbarkeit verbessert.
Weltweites Aufsehen erregte im Jahr 2000 die Atlantiküberquerung des Abenteurers und Menschenrechtlers Rüdiger Nehberg auf einem 17m langen, 350 Jahre alten Weißtannenstamm, den er mit Segeln und Auslegern bestückt hatte. So segelte er mit diesem Einbaum entgegen aller besseren Ratschläge erfolgreich die 2.000 Seemeilen von Mauretanien nach Brasilien, um auf die Situation der dortigen Ureinwohner aufmerksam zu machen. Das berühmt gewordene Dach der Expo-Weltausstellung in Hannover wurde aus 70 starken Weiß-Tannen hergestellt. Und das Gestühl der Dresdner Frauenkirche ist ebenfalls aus Tannenholz.
Weißtannenhonig ist eine ganz besondere Rarität, da die Tanne nicht regelmäßig „honigt“. Der Honig duftet intensiv aromatisch nach Tannennadeln, er kristallisiert sehr langsam und ist fast schwarz. Die Bezeichnung ‚Tannenhonig‘ darf in Deutschland tatsächlich nur für Honig von der Weiß-Tanne verwendet werden, aus anderen europäischen Ländern kann er aber auch von Fichten stammen.
Schon bei den alten Germanen hatte die Tanne wegen ihrer immergrünen Zweige Kult-Bedeutung als Symbol ewiger Lebenskraft, fortwährenden Wachstums und unerschöpflicher Fruchtbarkeit. Um die Wintersonnenwende wurden daher Tannenzweige auf öffentliche Plätze und vor die Häuser gelegt.
Nicht weit von „unserer“ Tanne befindet sich bei Ludwigsthal das Nationalparkzentrum Falkenstein des Bayerischen Waldes. Der Nationalpark ist der erste und damit älteste, international anerkannte Nationalpark Deutschlands und erstreckt sich mit einer Fläche von rund 250 Quadratkilometern um die Bayerwaldberge Falkenstein, Rachel und Lusen. Er bildet zusammen mit dem angrenzenden Nationalpark Šumava in der Tschechischen Republik das größte Waldschutzgebiet Mitteleuropas. Das Nationalparkzentrum Falkenstein mit seinem Besucherzentrum Haus zur Wildnis bietet den Gästen mit modernen, hoch interessanten Ausstellungen tiefe Einblicke in die wilde Waldnatur. Ein Besuch dort lohnt sich unbedingt, wegen vieler für Kinder besonders attraktiver Ausstellungsteile auch und gerade mit Kindern.
Wir bewundern das großartige Engagement der Nationalparkleitung und -verwaltung mit ihrem kompetenten Team und wünschen der Tanne und dem Nationalpark weiterhin eine gute und ebenso erfolgreiche Zukunftsentwicklung!
Text und Bilder: Andreas Roloff, TU Dresden