Polchower Linde (Landkreis Rostock, Mecklenburg-Vorpommern)

Polchower Kirchlinde: der Stamm: eine komplexe Verknüpfung von alten Stammresten mit Dutzenden von Wiederaustrieben, die man jetzt gezielt nutzen muss
BaumartSommer-Linde (Tilia platyphyllos)
Standort:im Ortsteil Polchow der Gemeinde Wardow bei Laage (Landkreis Rostock, Mecklenburg-Vorpommern), unübersehbar im Kirchgarten
Alter:ca. 800 Jahre
Stammumfang:14,40 m in 1,3 m Stammhöhe (gemessen Feb. 2022)
Höhe:ca. 20 m
GPS-Daten: N 53.944755, O 12.476577
NEB seit:28. Mai 2022  (Bericht & Fotos)

Um 1209 wurde die Pfarrkirche des Dorfes Polchow von den pommerschen Fürsten Bogislaw II. und Kasimir II. gegründet und dem Heiligen Martin gewidmet. 1228/1229 kam es – nach der urkundlichen Übertragung auf das Kloster Dargun 1216 – unter die Herrschaft der mecklenburgischen Fürsten. Wohl aus dieser Zeit stammt auch die Sommer-Linde auf dem angrenzenden Friedhof und hat die ersten beiden Kirchenbauten bereits überlebt; seit 1891 begleitet sie das nach Plänen G. L. Möckels – er hatte zuvor das Doberaner Münster restauriert – von dem Teterower Baumeister C. Pitschner errichtete Gotteshaus, dessen Vorgängerbau wegen Baufälligkeit abgerissen werden musste. Wenn wir annehmen wollen, die einstige Kirche und die Linde wären gleichen Alters, ist der Baum heute also gut 800 Jahre alt.

Nicht viele Bäume erreichen dieses Alter, für Linden ist das aber nicht ungewöhnlich. Sie wachsen zwar nicht lebenslang in die Höhe, stellen jedoch das Dickenwachstum nicht ein. Während das innere (tote) Holz mit den Jahrhunderten von Insekten, Pilzen und Bakterien nach und nach abgebaut wird, leben die äußeren Schichten weiter, leiten in ihren Gefäßen Wasser und Nährstoffe in die Krone und in der Rinde Kohlenhydrate in die Wurzel, produzieren neues Holz – und vereinzeln sich auf diese Weise nach und nach. Die Polchower Linde, einer der ältesten Bäume Mecklenburgs und der dickste bekannte Ostdeutschlands, ist ein auffälliges Beispiel dafür. Manch einer, der den Baum aus der Nähe und aus allen Himmelsrichtungen betrachtet, kann durchaus zu dem Schluss kommen, mehrere Bäume vor sich zu haben, die an einigen Stellen in der unteren Krone zusammengewachsen sind. Im Herbst 2012 habe wir deshalb den Baum durch das Dresdner Forschungsinstitut Pro Arbore genetisch untersuchen lassen und ein zweifelsfreies Ergebnis bekommen: Es ist eine einzige Sommer-Linde.

Wie stark und vital die Polchower Linde immer noch ist, haben wir nach dem vorletzten Kronenentlastungsschnitt 2008 erfahren. Die neuen Austriebe an den Schnittstellen vermitteln nicht den Eindruck, als würde sich ihr Leben dem Ende neigen oder es ihr auch nur schlecht gehen: starke, junge Triebe, vitales Grün, große Blätter, artgerechte Verzweigung. Aber die neu entstandene Biomasse drückt auf das Holz, und dann zeigt sich, was der Baum wirklich aushalten muss und wie er sich ggf. von seiner Last befreit. In der Nacht vom 22. auf den 23. Juni 2017, in einem schweren Regensturm, hat der östliche der beiden Hauptstämmlinge nachgegeben und brach oberhalb des Stammfußes. Was dabei zu Tage trat, hat uns völlig verblüfft. Offensichtlich hat sich die Linde schon längere Zeit darauf vorbereitet, den Stämmling zu opfern, um dessen Nachbarn und damit sich selbst erhalten zu können. Er ruhte nur noch auf dem Holz der letzten Jahresringe wie auf einem hohlen, dünnen Außenskelett. Hinter dieser Wandung hatte sich aber längst ein neuer Stamm gebildet: ein „Innenskelett“, das den verbliebenen westlichen Teil der Krone stabilisiert und versorgt. An der Bruchstelle sind deutliche Spuren des Brandkrustenpilzes zu erkennen, der den sich anbahnenden Bruch beschleunigt hat, von außen aber nicht erkennbar war. Unterhalb der Bruchstelle verläuft in der Borke des Stammes ein Querriss, der jedoch nur das „Außenskelett“ umfasst und daher für die Festigkeit des Baumes keine Bedeutung mehr hat; er ist erst durch den Bruch und die damit einhergehenden Erschütterungen entstanden.

Mit dem Abwurf des ausgehöhlten mächtigen Stämmlings hat sich die Linde wieder selbst stabilisiert. Somit ist es nicht als Schaden einzustufen, denn der Baum ist gut versorgt, er steht jetzt jedenfalls insgesamt stabiler als vor dem Ausbruch. Das heißt gleichwohl nicht, wir könnten die Hände in den Schoß legen und den Baum sich selbst überlassen. Im Wald wäre das möglich, nicht aber auf dem Friedhof.

Die Ast- und Blattmasse, die sich in den zurückliegenden Jahren gebildet hat, beschwert den Baum und könnte an einer anderen Stelle zu einem weiteren Bruch führen. Also werden wir ihn, wie schon mehrere Male zuvor, erneut entlasten und die Gesamtkorne einkürzen müssen. Im Herbst 2017, nachdem der Baum seine jährlichen Reservestoffe eingelagert hat und bevor die winterliche Schneelast zu einer Gefahr werden kann, wurde eine erste Schnittmaßnahme durchgeführt. Ein weiterer, etwas tiefer gehender Schnitt folgte im Frühjahr 2018, der dem Baum das Austreiben neuer Blätter und Zweige erleichtern soll. Seine enorm hohe Vitalität lässt uns hoffen, dass er auch dieses Mal keinen Schaden nehmen und wieder austreiben wird.

Wir sind uns aber auch darüber im Klaren, dass solche Eingriffe dauerhaft in etwa 10-jährigem Turnus wiederholt werden müssen, solange der Baum lebt. Den Plan dazu erarbeiten wir heute in der Hoffnung, ihn mögen noch möglichst viele Menschengenerationen nach uns fortführen. Es ist noch geplant, das Betreten des Kronentraufbereichs so zu lenken, dass jedermann die potentielle Gefahr herabfallender Äste erkennen kann.

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Für den Tag der Vertragsunterzeichnung möchten wir allen Beteiligten ganz herzlich danken, da er nicht nur dem Baum als Hauptdarsteller gehörte und ihn ehrt, sondern auch den vielen Menschen, die sich um ihn gekümmert und ihn, so gut es bei einem solch alten Monument möglich ist, beschützt haben. Wir danken auch im Namen der unzähligen Menschen längst vergangener Generationen, die unter seiner Krone Ruhe und Trost fanden, die sich über die ersten Blätter im Frühjahr als ein Wiederaufleben freuten, die einfach nur in seinem sommerlichen Schatten saßen und die im Herbst mit seinen Blättern Abschied nahmen. Möge uns die Polchower Linde noch lange erhalten bleiben!

Text bis hierher von Wolf-Peter Polzin, Landkreis Rostock, Sachgebietsleiter Umweltamt Güstrow (aus dem Kalender „Starke Bäume“ 2019 vom Dr. Frank-Verlag, Gera: Januarblatt – und letzter Absatz oben aktuell am 16.2.2022 hinzugefügt)

Diese Linde befindet sich in einem altersentsprechend sehr guten Pflegezustand, es ist bisher sehr verantwortungsvoll und einfühlsam mit dem Methusalem umgegangen worden – das soll auch so bleiben, jetzt auch mit fachlicher Unterstützung der Dendrologischen Gesellschaft und mit finanzieller Förderung der Eva Mayr-Stihl Stiftung. Wir möchten zeigen und vorführen, dass mit besonderer Behutsamkeit und Fürsorge solch ein Baum das Alter von 1000 Jahren erreichen kann und dies auch in Deutschland möglich ist.

Dem bewegenden Dank von Wolf-Peter Polzin oben im vorletzten Absatz möchten wir uns mit DDG-Kuratorium und Stiftung vollumfänglich anschließen, es ist eine wunderbare Würdigung der Jahrhunderte langen Förderung und erfolgreichen einfühlsamen Pflege dieses Baumes.

Wenn Sie einmal vor diesem Baum stehen: nehmen Sie sich 30 Minuten Zeit und schauen sich die Skulptur dieses Stammes und seiner Lebensgeschichte an! Versuchen Sie zu verstehen, was der Baum uns heute mit seinen Resten des ursprünglichen Stammes und den Dutzenden starker Wiederaustriebe erzählt. Fast jede:r wird zu einem anderen Ergebnis kommen, aber eins ist immer gleich: die phänomenale Wirkung dieses uralten Lebewesens.

letzte 3 Absätze von Andreas Roloff, TU Dresden